Konzert-Rezension, Mai 2012, Kulturforum-Kiel
Von Jörg Meyer
Entwurzelung und Heimatlosigkeit, so erzählt Stella Jürgensen, Sängerin, mit der sich das Hamburger Duo Ma Piroschka vor gut einem Jahr zusammentat, sei die Triebfeder der jiddischen Dichterin Rajzel Zychlinski gewesen. Doch die 1910 in Polen geborene und 2001 im US-Exil verstorbene Dichterin, deren fast verschollene Texte das Trio in der Bibliothek der Salomon Birnbaum-Gesellschaft wie derentdeckte, machte aus solchen Nöten eine Tugend und schuf lyrische Miniaturen einer Wandererin zwischen den Welten, die darin ihre kosmopolitische Heimat fand. Ein wohl einzigartiger Sonderfall im jiddischen Liedgut, dessen Vertonungen aus der Feder Damian Maria Rabes und arrangiert von Ralf Böcker daher auch ganz neue Wege beschreiten. Wer das klassische Klezmer-Idiom erwartete, begegnete im KulturForum also einer erfrischend modernen Lesart jiddischer Musik, die Stella & Ma Piroschka in einem Stilmix zwischen (Pop-) Chanson, Latin-Anklängen, Jazz und sogar Blues ansiedeln. So beschreibt Zumer das Drückende und zugleich Hitzige eines überreifen Spätsommertages in New York. Eine atmosphärische Studie, die Ralf Böcker am Klavier (und später auch Klarinette), Andreas Hecht auf der jazzig gespielten E-Gitarre und Stellas wie ein glühender Hauch wehende Stimme so swingen lassen, dass im Shtetl der Groove der Großstadt aufscheint. Nicht anders, wenn die Dichterin die Flaneure von einem „Kafe in Pariz“ aus beobachtet: Getriebene, die auch in der Musik mit marschierendem Akkordeon (Böcker) vorübereilen – im Schwirren der Stadt, das von harschen Tempowechseln zu sehnenden Intermezzi unterbrochen wird. Und selbst der „shpet-nakhtiken Muzik“ (Musik zur Mitternacht) wohnt eine lebenssüchtige Lebendigkeit inne, bei der man mittanzen möchte. Wie auch in der zarten Ballade Men tanst do, die sich nur kurz bei sinnender Introspektion aufhält, bevor sie sich vom schnellen Walzertakt anstecken lässt und S’iz shpet wiederum die Nacht an einer Bar heraufbeschwört, wo Stella ihr dunkles Timbre zu intensiver Schattenmalerei entfaltet. Denn im Groove des Groß-Shtetls, der sich in Vos tut er do zum lockeren Bossa aufschwingt, sind wie in Rilkes Lid immer auch die verdüsterten Ahnungen aufbewahrt, in Zychlinskis leise expressionistischer Lyrik ebenso wie – mehr noch – in den Vertonungen. Eben das macht ihren Reiz aus, dass der Groove so vieldeutig ist wie die Atmosphären der Großstadt und das Gespür einer jiddischen Weltbürgerin und ihrer kongenialen Musiker für deren mal bluesig, mal poppig swingende Vibrations.